WIE RUSSLAND DIE ÜBERNAHME DER SÜDLICHEN UKRAINE PLANT
Tebel-Report / Analyse – Auf der Jahrestagung des Verbandes der Rüstungsunternehmen der Region Swerdlow am 22. April erläuterte Major General Rustam Minnekaev, stellvertretender Kommandeur der Truppen des Zentralen Militärbezirks, das derzeitige Ziel der russischen Militäroperation.[1] Laut Minnekaev streben die russischen Streitkräfte die vollständige Einnahme des Dombass und der Südukraine an, um einen Landkorridor zur Krim zu schaffen, die 2014 von Russland annektiert wurde. Minnekaev zufolge würde dies Russland auch erlauben, über die »“[…] lebenswichtigen Einrichtungen der ukrainischen [Streitkräfte] sowie die Schwarzmeerhäfen, über die landwirtschaftliche und metallurgische Produkte in die Länder [der Welt] geliefert werden […]“« verfügen, wird er in Ukraina.ru zitiert.[2] Überdies könnte die Kontrolle über die Südukraine auch den Zugang zu Transnistrien ermöglichen, wo ebenfalls »“Fakten der Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung festgestellt werden„«, wie Minnekaev weiter ausführt. Für einen aufmerksamen Beobachter der russischen Militäroperation kommt diese Aussage kaum überraschend. Sie kann ohne Weiteres als Wladimir Putins Minimalziel bezeichnet werden und deutete sich in den letzten Wochen bereits an. Die Schaffung einer Landbrücke zur Krim würde die 2014 annektierte Halbinsel territorial sichern und auch die Wasserversorgung gewährleisten, die durch einen Kanal in der Nähe von Kherson vom Dnjepr zur Krim erfolgt. Sie könnte auch die wirtschaftlichen Beziehungen wiederbeleben, die traditionell zwischen den südukrainischen Gebieten und Russland bestanden. Moskau hat zwei Hauptoptionen, um die Aneignung der Gebiete zu realisieren: Russland kann ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten und unabhängige Volksrepubliken ausrufen oder die Gebiete schrittweise direkt an Russland angliedern.
Die Ausrufung von Volksrepubliken
Seit Wochen berichtet der ukrainische Geheimdienst über Aktivitäten im Zusammenhang mit Moskaus Plan, in der Oblast Cherson ein Unabhängigkeitsreferendum zur Gründung der Khersoner Volksrepublik (KhVR) abzuhalten.[3] Die Ukraine rechnet in keinem Fall mit einer freien Wahl und warnte die Einwohner davor, persönliche Informationen an die russische Militärverwaltung weiterzugeben. Persönliche Daten in Pässen und Fragebögen, die bei der Verteilung von Hilfsgütern verwendet werden, könnten bei der Wahl zum Ausfüllen der Stimmzettel verwendet werden, so die Sorge.[4] In ukrainischen Quellen wird der 1. Mai als Termin für das Unabhängigkeitsreferendum genannt. Danach soll bis zum 10. Mai eine Volkszählung stattfinden, auf die die Einberufung aller männlichen Personen zwischen 16 und 65 Jahren aus den Regionen Saporischschja und Kherson zum russischen Militär folgen soll.[5] Eine Druckerei in Kherson[6] und eine weitere in Nova Kakhova sollen die Stimmzettel, Plakate und Broschüren bereits gedruckt haben, so ukrainische Quellen.[7] Kirill Stremousov, der stellvertretende Leiter der russischen militärisch-zivilen Verwaltung, widersprach jedoch am Donnerstag im russischen Fernsehen der ukrainischen Darstellung: »“Es gab den Versuch, in der Stadt Kherson eine große Kundgebung gegen das so genannte Referendum abzuhalten, das die ukrainischen Behörden erfunden haben. Obwohl in unserer militärisch-zivilen Verwaltung Fragen zum Referendum nicht einmal diskutiert wurden, noch die Themen des Referendums die Gründung der Volksrepublik Cherson besprochen„«, wird er von RIA Novosti zitiert.[8] Auch ein lokaler ukrainischer Journalist sagte erst am Freitag gegenüber The New Voice of Ukraine, er wisse nichts von einem Referendum und halte es auch nicht für sinnvoll.[9]
De-facto-Angliederung der Südukraine an Russland
Als zweite Variante steht eine schrittweise erfolgende Angliederung der Südukraine an Russland im Raum. Denn abgesehen von den so genannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, die über eigene Symbole verfügen, weht die weiß-rot-blaue Flagge der Russischen Föderation bereits auf offiziellen Gebäuden in Städten wie Melitopol[10], Endehodar[11], Berdyansk[12] oder Kherson[13]. Und selbst historische Symbole wie die sowjetische Flagge wurden erst vergangene Woche in Kherson auf einem Mast gehisst.[14] Westliche Medien berichten aus Henichesk und Nova Kakhovka, dass dort wieder Lenin-Statuen aufgestellt wurden.[15] Während für einige russischsprachige Einwohner die rote Fahne mit Hammer und Sichel eine nostalgische Erinnerung und für Russland die symbolische Gleichsetzung der Ukraine mit Hitler-Deutschland darstellt, erinnert sie andere Einwohner an die Wiederkehr der düsteren Zeiten kommunistischer Diktatur.
Ein weiterer Beleg für die »De-Ukrainisierung« (‘de-Ukrainise’), wie India Today[16] sie in einem Artikel vom 17. April treffend bezeichnete, bildet der Aufbau einer russischen Zivil- und Militärverwaltung. Sie geht einher mit der Ernennung neuer Bürgermeister und der Absetzung, Einschüchterung und sogar Entführung unwilliger Amtsinhaber. Den bislang bekanntesten Fall stellt Ivan Fedorov dar, der mittlerweile freigelassene Bürgermeister von Melitopol, der am 11. März von einer Gruppe russischer Soldaten aus dem Rathaus geführt wurde, wie eine Überwachungskamera aufzeichnete.[17] Zudem sind beispielsweise in Kherson das ukrainische Fernsehen[18] und unabhängige Medien verschwunden und durch russische Programme ersetzt. Russische Patrouillen und Ausweiskontrollen gehören nun zum Alltag, wie es The New Voice of Ukraine beschreibt.[19] Russische Sicherheitskräfte sollen ferner Demonstranten einschüchtern und verhaften.[20] Gerüchte sprechen laut The Voice of Ukraine und dem britischen The Guardian auch von Folter.[21] Dafür soll die russische Sprache wieder uneingeschränkt verwendet werden können. Gerade in diesem Bereich hatte die Ukraine 2019 ein unheilvolles Sprachengesetz verabschiedet, das bei längerfristiger Anwendung dazu geführt hätte, den Gebrauch der russischen Sprache auch in russischsprachigen Gebieten stark einzuschränken.[22] Und schließlich steht die Einführung des russischen Rubels bevor. Ab dem 1. Mai soll die Region Kherson mit einer Übergangsfrist von bis zu vier Monaten »“in die Rubelzone eintreten“«, wie Kirill Stremousov laut Pravda im Fernsehsender Russia 24 ankündigte.[23] In beiden Varianten ist eines sicher: Der Kampf um die russischsprachigen Gebiete in der Ukraine wird nach dem 9. Mai kaum beendet sein, sondern sich allenfalls verschärfen. Denn selbst wenn Wladimir Putin die militärischen Landgewinne als Sieg darstellen würde, darf nicht vergessen werden, dass sie auch von der Ukraine anerkannt werden müssten. In der gegenwärtigen Situation ist das genauso realitätsfern wie die Möglichkeit einer ukrainisch-russischen Friedensregelung, weil der Überfall Russlands auf die Ukraine dem Westen inzwischen zu sehr als Vorwand dient, um Russland als geopolitische Macht auszuschalten. Das macht wenig Hoffnung auf einen tragfähigen Kompromiss und ein Ende des sinnlosen Sterbens und des Leids, das viele Familien beiderseits der Grenze erfahren. Und auch jenes der russischsprachigen Bewohner der Südukraine, die zwar ihre Sprache und Kultur bewahren wollen, aber nicht unbedingt ein Leben in Putins Russland anstreben.
[1] https://www.kyivpost.com/eastern-europe/russia-to-seek-full-control-of-donbas-southern-ukraine-russian-general.html ; https://www.ukrinform.de/rubric-ato/3464545-donbass-und-sudukraine-russisches-militar-nennt-neues-ziel-des-krieges.html ; https://ukraina.ru/exclusive/20220422/1033840100.html
[2] https://ukraina.ru/exclusive/20220422/1033840100.html
[3] u.a. https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/04/19/7340739/ 4https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/04/19/7340739/ 5https://www.republicworld.com/world-news/russia-ukraine-crisis/russia-preparing-referendum-on-creation-of-the-kherson-peoples-republic-reports-articleshow.html; https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/04/20/7340915/; https://www.ukrinform.ua/rubric-regions/3459442-na-hersonsini-rosiani-vze-gotuut-referendum-z-1-po-10-travna.html ; https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/04/19/7340739/; https://www.themoscowtimes.com/2022/03/12/ukraine-accuses-russia-of-fake-referendum-plot-a76890; https://uacrisis.org/de/tag-57-des-krieges-lage-in-mariupol-mobilmachung-der-russischen-armee-in-cherson-neues-babyn-jar-in-mangusch-bei-mariupol; https://gur.gov.ua/en/content/putin-planuie-provesty-prymusovu-mobilizatsiiu-na-okupovanykh-terytoriiakh-zaporizkoi-ta-khersonskoi-oblastei.html; t.me/DIUkraine/376
[6] https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/04/19/7340739/
[7]https://www.ukrinform.ua/rubric-regions/3459442-na-hersonsini-rosiani-vze-gotuut-referendum-z-1-po-10-travna.html ; https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/04/19/7340739/
[8] https://ria.ru/20220428/referendum-1785916483.html
[9] https://english.nv.ua/nation/kherson-mayor-on-referendum-captives-remote-work-under-occupation-50237739.html
[10] https://news.sky.com/video/ukraine-russian-flag-raised-in-ukraine-town-amid-fighting-12552062 ; https://www.newsweek.com/soviet-victory-flag-kherson-ukraine-russia-collaborators-1699587
[11] https://informnapalm.org/en/the-russian-national-guard-officer-tore-off-the-flag-of-ukraine-in-enerhodar-together-with-chicherina/
[12] https://newsreadonline.com/russian-flag-hung-in-berdyansk-media/
[13] https://ria.ru/20220409/kherson-1782706975.html
[14] https://www.newsweek.com/soviet-victory-flag-kherson-ukraine-russia-collaborators-1699587
[15] https://edition.cnn.com/europe/live-news/ukraine-russia-putin-news-04-21-22/h_de5b5ad30159ad3d5d975d5707765b90; https://edition.cnn.com/europe/live-news/ukraine-russia-putin-news-04-19-22/h_ad118ebf74fb99b39aee56cf0f9ef91e; https://thedispatch.com/p/lenin-returns-to-ukraine?s=r; https://www.theguardian.com/world/2022/apr/23/back-in-the-ussr-lenin-statues-and-soviet-flags-reappear-in-russian-controlled-cities ; https://english.nv.ua/nation/russian-invaders-erect-monument-to-lenin-in-occupied-nova-kakhovka-50238267.html
[16] https://www.indiatoday.in/world/russia-ukraine-war/story/how-russia-plans-to-de-ukrainise-captured-territories-1938612-2022-04-17
[17] https://news.sky.com/story/kidnapped-melitopol-mayor-city-leader-ivan-fedorov-freed-in-swap-with-nine-russian-conscripts-12568287
[18] https://newlinesmag.com/reportage/from-kherson-ukrainians-report-of-russian-atrocities-and-propaganda/
[19] https://english.nv.ua/nation/kherson-resident-talks-about-living-under-russian-heel-in-an-interview-with-nv-50232665.html
[20] https://warontherocks.com/2022/03/will-russia-create-new-peoples-republics-in-ukraine/
[21] https://english.nv.ua/nation/kherson-resident-talks-about-living-under-russian-heel-in-an-interview-with-nv-50232665.html; https://www.theguardian.com/world/2022/apr/23/back-in-the-ussr-lenin-statues-and-soviet-flags-reappear-in-russian-controlled-cities
[22] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ukraine-neues-sprachgesetz-soll-das-russische-zurueckdraengen-17736397.html
[23] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-russische-militaerverwaltung-will-in-cherson-offenbar-rubel-einfuehrung-erzwingen-a-c99e175e-3cee-4a6a-95c7-d8100a12f1c2?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter#ref=rss ; https://english.pravda.ru/news/world/151527-ukraine_kherson/
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