Einen Monat Krieg gegen die Ukraine : WAS WIR BISHER WISSEN UND WOHIN ER FÜHREN KANN – Analyse.
Tebel-Report / Analyse – Der Krieg in der Ukraine dauert mittlerweile einen Monat. Auch wenn sich ein dichter Nebel der Propaganda über dem Geschehen ausbreitet, so lassen sich mehrere Erkenntnisse aus dem bisherigen Kampfverlauf gewinnen.
Der russische Blitzkrieg scheitert am 2. Tag der Militäroperation
Als die russischen Streitkräfte am Morgen des 24. Februar 2022 in einem Überraschungsangriff in vier Angriffsachsen die ukrainische Grenze überschritten, ging Moskau von einem geringen militärischen Widerstand und der raschen Einnahme der ukrainischen Hauptstadt Kiew unter Schonung der Zivilbevölkerung aus. Dieser Plan ging jedoch bereits am 2. Tag der invasion nicht auf: Der militärische Widerstand war weit größer als erwartet und selbst wichtige grenznahe Städte wie Chernihiv, Sumy oder die Millionenstadt Kharkov konnten nicht im Handstreich eingenommen werden. Nur die Krimfront im Süden dürfte den Erwartungen Moskaus entsprochen haben. Hier konnte am 7. Tag in nordwestlicher Richtung Kherson erobert werden, in östlicher Richtung Melitopol am 2. Tag, Berdyansk am 4. Tag und die Gegend mit dem Atomkraftwerk Saporischschja bis zum 9. Tag. Nur das strategisch wichtige Mariupol mit seinem ausgedehnten Tunnelsystem hielt stand und ist seit Tag 8 der Invasion stark umkämpft. Eine weitere unangenehme Überraschung stellte die Passivität der russischsprachigen Bevölkerung im Osten und Nordosten der Ukraine dar. Selbst in den russischen Medien fehlen Bilder von Menschen, die die russischen Bodentruppen mit Jubel begrüßen
Ein Rattenschwanz an Problemen
Was als Blitzkrieg geplant war, ging im Norden und Nordosten der Ukraine schon bald in einen Belagerungs- und Stellungskrieg über. Die Folgen der ursprünglichen Fehlplanung sind weitreichend und von den russischen Streitkräften bis heute nicht gelöst. Die Einkesselungen grenznaher Städte bindet wichtige russische Offensivkräfte und hindert sie am Vorrücken, um die Nachschubwege nicht zu gefährden. Gerade der Nachschub bildet die Achillesverse der russischen Operation. Unter der Annahme eines baldigen militärischen Erfolgs mangelt es an Proviant, Treibstoff und Munition. Unter den Engpässen und Misserfolgen leidet ebenso die Kampfmoral russischer Soldaten, die vielleicht nicht unbedingt den Kriegsgrund nachvollziehen.
Hinzu kommen schwere Verluste, die das Pentagon am vergangenen Mittwoch laut NY-Times mit mehr als 7 000 gefallenen Soldaten bezifferte. Nach Einschätzung des Pentagons stehen die russischen Bodentruppen also am Rande der Kampfunfähigkeit. Die Schätzung der Verluste erhärtete sich am Sonntag durch einen Artikel in der Komsomolskaya Pravda, in dem der russische Verteidigungsminister mit der Zahl von 9.861 gefallenen und 16.153 verletzten Soldaten zitiert wurde. Der Zeitungsartikel wurde jedoch sofort gelöscht und als das Werk von Hackern dargestellt, kann aber über die Wayback-Maschine des Internetarchivs abgerufen werden. Die Verluste zwingen Moskau dazu, neue Truppen aus dem Fernen Osten und aus Armenien heranzuführen wie auch syrische Söldner zu verpflichten.
Russland fällt es schwer, sich auf die ukrainische Strategie einzustellen
Die hohen Verluste der russischen Streitkräfte stehen auch mit der ukrainischen Strategie zusammen. Die ukrainische Armee verübt vielfach Anschläge aus dem Hinterhalt. Diese gut ausgebildeten Kleingruppen sind ausgestattet mit modernen westlichen panzerbrechenden Waffen und Luftabwehrraketen. Da sie über Ortskenntnisse verfügen, können sie aus dem Nichts zuschlagen, indem sie beispielsweise das erste Fahrzeug eines russischen Konvois zerstören, die übrigen Fahrzeuge zum Anhalten zwingen und sie wie Tontauben abschießen. Angriffe dieser Art stören den ohnehin fragilen russische Nachschub im Hinterland und binden zusätzliche russische Kräfte, die zu deren Schutz abgestellt werden müssen.
Ausblick
Zweifellos befinden wir uns jetzt in einer Phase, in der sich die russischen Streitkräfte neu formieren und sowohl an Soldaten als auch an Material aufgestockt werden. Aktive Kämpfe finden nur noch im Dombass statt, während Russland auf Zermürbung, Luftangriffe und seegestützte Langstreckenraketen setzt. Die Zeit der relativen Ruhe kommt jedoch auch der Ukraine zugute, die weiterhin mit westlichen Waffen ausgerüstet wird, um ihre Guerillastrategie zu erhalten und sogar in die Offensive zu gehen.
Für die zukünftige Entwicklung gibt es mehrere Möglichkeiten:
(1) Es kommt zu einer Verhandlungslösung
Eine solche wird nur dann ernstlich ins Spiel kommen, wenn beide Seiten keinen wirklichen Vorteil in einer militärischen Lösung sehen. Außerdem müsste die Lösung auch Wladimir Putin erlauben, sein Gesicht zu wahren. Schließlich ist Putins persönliches politisches Schicksal schon jetzt zu eng mit dem Ausgang des Ukraine-Abenteuers verknüpft. Aber auch ein Kompromiss mit der Ukraine würde die Gefahr für Putin nicht bannen: Die USA könnten die Aufhebung der Sanktionen an die Aufarbeitung begangener Kriegsverbrechen und an Reparationenszahlungen knüpfen und den russischen Bären so am Nasenring durch die Manege ziehen.
(2) Russland will den Sieg erzwingen
In der gegenwärtigen Situation wird Putin wohl kaum einem solch unsicheren Frieden zustimmen, solange er noch die Chance auf einen militärischen Erfolg hat. Es ist nicht zu vergessen, dass Kiew – trotz des Rückzugs der russischen Streitkräfte am Mittwoch im nordwestlichen Sektor vor der Stadt – in Reichweite der russischen Geschütze liegt. Außerdem könnte Russland immer noch Mykolaiv an der Krimfront einnehmen. Mit der Einnahme von Izyum könnten auch die letzten ukrainisch gehaltenen Gebiete der Oblast Donezk eingekreist werden, und die Einnahme von Mariupol in der Oblast Luhansk würde Offensivkräfte freisetzen, die sich gegen das stark befestigte Kryvyy Rih oder landwärts gegen die strategisch wichtige Hafenstadt Odessa richten könnten, vor der sich bereits seit dem zehnten Tag der Invasion russische amphibische Angriffsschiffe befinden.
Putin könnte auch durch das Eingreifen weißrussischer Einheiten unterstützt werden, die in die Nordukraine einmarschieren könnten, falls Alexander Lukaschenko seine Zukunftschancen mit Putins Scheitern schwinden sieht. Dies träfe insbesondere den Nachschub des Westens.
(3) Die Ukraine will Russland aus eigener Kraft“ aus ihrem Gebiet vertreiben.
Die eklatante militärische Schwäche Russlands könnte die Ukraine aber auch ermutigen, die Russen aus eigener Kraft zu vertreiben. Das kann wohl punktuell geschehen, wie am Mittwoch in Irpin und Makariv, ist aber momentan kaum in großem Stil denkbar.
(4) Die Patt-Situation bleibt bestehen
Damit kommen die beiden wahrscheinlichsten Varianten ins Spiel. Die russischen Streitkräfte werden die beiden Oblaste Luhansk und Donezk vollständig erobern und auch Mariupol einnehmen. Es könnte noch der Kampf um Odessa folgen. Darüber hinaus wird Moskau wahrscheinlich auf Zeit spielen und seinen Einfluss in den mehrheitlich russischsprachigen Gebieten der Ukraine durch Volksabstimmungen und die Gründung weiterer „Volksrepubliken“ stärken. Der Wiederaufbau der zerstörten Städte wird jedoch die Möglichkeiten Russlands übersteigen.
(5) Wladimir Putin wird entmachtet oder tritt zurück
Schließlich wird es im Machtzirkel um Wladimir Putin immer ruhiger. Neben der Auswechslung hochrangiger Militärs und Geheimdienstmitarbeiter ist Berichten zufolge auch der langjährige Berater Anatoli Tschubais bereits außer Landes. Der Intimus und Verteidigungsminister Sergej Schoigu sowie der Stabschef der russischen Streitkräfte, Waleri Gerassimow, wurde seit dem 11. März nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Ein Zusammenbruch von Putins Macht ist somit mittelfristig denkbar.
Fazit:
Es ist wahrscheinlich verfrüht, in diesem Stadium von einem Zusammenbruch der russischen Streitkräfte zu sprechen. Wir befinden uns derzeit in einer Phase der Aufstockung und Verlegung der russischen Truppen. Auch eine Friedenslösung kann Moskau jetzt wahrscheinlich nicht akzeptieren, zumal die USA und die westlichen Staaten Russland keine gesichtswahrende Lösung anbieten. Wie auch immer sich der Ukraine-Krieg entwickelt, eines ist klar: Mit dem „Ukraine-Abenteuer“ hat der Schachspieler Wladimir Putin seine politische Zukunft und das Ansehen des russischen Militärs verspielt – mit weitreichenden geopolitischen Folgen.
Bildquelle: Katatonia
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