DIE VERLUSTE DER UKRAINISCHEN ARMEE – EINE SCHÄTZUNG

Der Ukraine-Krieg geht in seinen fünften Monat. Die Hoffnung auf einen raschen Erfolg musste die Armee der Russischen Föderation genauso wie zahlreiche ihrer Soldaten schon wenige Kilometer hinter der ukrainischen Grenze begraben. Nach dem Schock des russischen Angriffs und der Euphorie, trotz militärischer Unterlegenheit die Invasoren aufzuhalten und in manchen Fronten zum Rückzug zu bewegen, werden nun aber auch die Ukrainer mit ihren mittlerweile unübersehbar hohen Verlusten an Soldaten und Zivilisten (in diesem sinnlosen Krieg) konfrontiert.

Eine erste Angabe machte Volodymyr Zelenskyy bereits Mitte Mai. In einem Gespräch mit ukrainischen Studenten bezeichnete der ukrainische Präsident den aktuellen Krieg als aufgeschobenen Unabhängigkeitskrieg, der erst die „Unabhängigkeit“ von 1991 vollendet. Auch wenn er an einen Sieg gegen Russland glaubt, so zitiert ihn die ukrainische Prawda mit den Worten: „[….] But we must remember that the price of all this is tens of thousands of lives. The lives of all those killed by the enemy. Tens of thousands.“[1] Wenige Tage danach, am 22. Mai, dringen erste Zahlen an Verlusten ukrainischer Soldaten an die Öffentlichkeit. In einem Briefing mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda soll sich Zelenskyy laut ukrainischer Prawdagegen eine Petition gewandt haben, die sich dafür einsetzt, dass auch wehrpflichtige Männer während des Kriegszustandes das Land verlassen dürfen. In diesem Zusammenhang sprach Zelensky davon, dass er das kaum vermitteln kann, wenn „heute zwischen 50 und 100 Menschen“ im Osten des Landes bei der Verteidigung der Ukraine und ihrer Unabhängigkeit sterben könnten.[2] Diesen Zahlenwert präzisierte der ukrainische Präsident in einem Interview mit dem US-Sender Newsmax Television am 31. Mai,[3] als er von 60-100 toten und 500 verletzten Soldaten pro Tag in der Ostukraine sprach.

Gegenüber dem britischen Guardian sprach der Präsidenten-Vertraute Olexij Arestowytsch am 8. Juni bereits davon, dass in dieser Woche täglich bis zu 150 Soldaten starben und 800 weitere verwundet worden seien.[4] Von täglichen Verlusten „up to a hundred of our fighters killed and up to 500 wounded“ schrieb ebenso der ukrainische Verteidigungsminister Oleksiy Reznikov in einem Facebook-Eintrag, der am 9. Juni veröffentlicht wurde[5] und am selben Tag erklärteMikhaylo Podolyak, einBerater des ukrainischen Präsidenten, in der BBC, dass die AFU jeden Tag zwischen 100 und 200 getötete Kämpfer verliere.[6]

Noch höher griff der Fraktionsvorsitzende von Wolodymyr Selenskyj Partei „Sluha narodu“, David Arachamia, der von insgesamt200 bis 500 ukrainischengetöteten Soldaten und bis zu 1000 Getöteten und Verwundetenim Dombass pro Tag in den letzten zwei Wochen sprach[7] – eine Aussage, der der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, Oleksiy Danilov,umgehendin einem Interview im Medium Liga.net widersprach.[8]

Allerdings bilden diese Wortmeldungen eher ein Blitzlicht der aktuellen Situation und lieferten keine verlässlicheren Rückschlüsse auf die Größenordnung des Gesamtverlustes. Dies änderte sich durch ein Interview, das Olexij Arestowytsch dem russischen Oppositionellen Mark Feygin im Rahmen eines regelmäßigen Youtube-Kanal „Feygin Live“ am 10. Juni gab.[9] Arestowytsch, der den Zeitpunkt eines russischen Angriffs bereits März 2019 ziemlich genau prognostizierte,[10] sprach laut Washington Post in der aktuellen Phase des Abnützungskrieges von 200 bis 300 gefallenen ukrainischen Soldaten und etwa 10 000 toten ukrainischen Soldaten seit Kriegsbeginn.

Aus diesen Angaben lässt sich grob ableiten, dass die ukrainischen Streitkräfte in den ersten dreieinhalb Monaten des Krieges mindestens 10 000 Soldaten verloren und das seit etwa drei Wochen die Zahlen stark ansteigen, sodass in dieser Phase des Abnützungskrieges die monatlichen Verluste nun zwischen 6 000 und 9000 Gefallene (bei 200 bzw. 300 Soldaten pro Tag) betragen könnten.

Die Steigerung in den Opferzahlen ist plausibel, weil sich die ukrainischen Verteidiger im Dombass gerade in einem Stellungskrieg entlang einer Frontlinie befinden, die seit etwa 2014 zu wehrhaften Stellungen ausgebaut wurden. In diesem ostukrainischen Kampfgebiet besitzen die russischen Streitkräfte nicht nur eine Luftüberlegenheit, sondern auch eine große Überlegenheit an Feuerkraft. Wahllos nehmen die Russen mit einem schier unerschöpflichen Reservoir an Munition die ukrainischen Stellungen unter Beschuss.

Zu den Verlusten der ukrainischen Streitkräfte müssen ebenso die Verwundeten gerechnet werden. Bei Zahlen von 500 (Volodymyr Zelenskyy, Oleksiy Reznikov) Soldaten pro Tag könnte mit bis zu mindestens 60 000 verwundeten Soldaten seit Kriegsbeginn zu rechnen sein. Werden für die Kampfphase Arestowytschs Angabe von 800 Verwundeten zu Grunde gelegt, ergäben sich nun aktuell etwa 24 000 Verwundete auf ukrainischer Seite pro Monat. Von ihnen könnte aber natürlich das Gros wieder an die Front zurückkehren.

Diese Möglichkeit besteht bei einer dritten Gruppe an „Verlusten“ nicht unbedingt. Neben Toten und Verwundeten existiert eine steigende Zahl an Kriegsgefangenen. Diese bezifferte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu gemäß der russischen TASS vom 7. Juni mit insgesamt 6.489 AFU-Soldaten.[11] In aktuellen Kampf um Lysychansk dürfte sich diese Zahl bald erhöhen.

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[1] https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/19/7347282/

[2] https://www.pravda.com.ua/news/2022/05/22/7347852/; https://www.theguardian.com/world/2022/may/23/up-to-100-ukraine-troops-could-be-dying-donbas-each-day-zelenskiy

[3] https://www.youtube.com/watch?v=fSM3d1gSmvI; https://tass.com/world/1458741

[4] (Mittwoch, 8. Juni) https://www.theguardian.com/world/2022/jun/08/ukraine-and-russia-compete-to-be-last-army-standing-as-donbas-deaths-mount ; https://www.theguardian.com/world/2022/jun/10/ukraine-casualty-rate-russia-war-tipping-point: A key question is whether Ukraine can cope with the losses it is sustaining. Estimates vary, but Oleksiy Arestovych, a high-profile Ukrainian military analyst and presidential adviser, said “up to 150 troops a day were being killed and 800 wounded”.

[5] https://armyinform.com.ua/2022/06/09/glava-oboronnogo-vidomstva-vyznachyv-novi-czili-z-postachannya-zbroyi-do-zsu/?utm_source=mainnews&utm_medium=article&utm_campaign=traficsource „; https://en.interfax.com.ua/news/general/838028.html

[6] https://www.bbc.com/news/world-europe-61742736 ; https://www.bbc.co.uk/programmes/w172yfbzw86mbbl (11 days left to listen)

[7] https://uacrisis.org/de/tag-113-des-krieges-macron-scholz-draghi-und-johannis-in-kyjiw-verluste-der-ukrainischen-armee

[8] https://english.nv.ua/nation/nsdc-chief-responds-to-claims-of-1-000-ukrainian-casualties-every-day-in-donbas-50250802.html

[9] https://www.trtdeutsch.com/news-europa/selenskyj-berater-bisher-etwa-10000-ukrainische-soldaten-getotet-9113454; https://www.washingtonpost.com/world/2022/06/11/ukraine-war-russia-luhansk/?utm_source=rss&utm_medium=referral&utm_campaign=wp_world; https://www.theguardian.com/world/2022/jun/10/ukraine-casualty-rate-russia-war-tipping-point

[10] Zur „schillernden Gestalt“ Oleksiy Arestovych siehe https://www.opendemocracy.net/en/odr/ukraine-president-adviser-arestovych/

[11] https://tass.ru/armiya-i-opk/14843259?utm_source=google.com&utm_medium=organic&utm_campaign=google.com&utm_referrer=google.com

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