CHEMNITZ UND KÖTHEN IM MEDIENSPIEGEL : „BALD NUR NOCH NAZIS UND (…) ANTIFA“

Die Reaktionen auf den mutmaßlichen Mord in Chemnitz bilden eine Zäsur in Deutschland. Noch nie zuvor bezichtigte eine deutsche Kanzlerin Demonstranten eine „Hetzjagd“ veranstaltet zu haben, noch nie zuvor wird ihr so deutlich vom Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz widersprochen. Noch nie zuvor wird ein Mord durch einen Asylbewerber politisch so stark von extremeren Gruppierungen ausgeschlachtet, noch nie zuvor gab ein deutscher Bundespräsident die Empfehlung für den Besuch eines Konzertes mit extrem links stehenden Musikgruppen ab. Selten offen wurde davor gewarnt, Verbrechen von Asylbewerbern zu pauschalisieren, auf der anderen Seite wurden aber alle Demonstranten und sogar ein ganzes Bundesland pauschal diffamiert. Dementsprechend sorgevoll sind die Kommentare in Zeitungen:
Neue Osnabrücker Zeitung (Osnabrück):  „Die Merkel’sche Maxime der offenen Grenzen für Massenmigration hat die Gesellschaft tief gespalten. (…) Deshalb sind jetzt Mäßigung und verbale Abrüstung geboten. (…) Doch was machen Große Koalition und Kanzlerin? Sie liefern sich einen überflüssigen Streit mit Sachsens Ministerpräsident und dem Chef des Bundesverfassungsschutzes über die Deutungshoheit der Vorkommnisse von Chemnitz. Mit so einem unwürdigen Schauspiel in der Öffentlichkeit wird das Vertrauen in Staat und Demokratie geschwächt. Besonders bitter daran ist, dass dadurch genau die Falschen gestärkt werden– die Extremisten.“

 

 

Basler Zeitung (Basel): „Wer in Chemnitz von einem Lynchmob spricht, weiss nicht, was ein Lynchmob ist. Wer jeden AfD-Wähler zum Nazi macht, weiss nicht, was ein Nazi ist. Wer Sarrazin zu einem Ideologen des rassenreinen Ariertums macht, hat keine Ahnung, was ein solcher Ideologe denkt, sagt und schreibt. Wer vorschnell «Nazi» ruft, ist genauso dumm wie der Idiot, der die Hand zum Hitlergruss erhebt.“

 

Deutschlandfunk (Köln): „Selbst wenn die rassistische Aggression sich bei manchen aus dem Gefühl sozioökonomischer Zurücksetzung speist, gibt es sehr viele Nicht-Abstiegsängstliche, die mitbrüllen. Könnte es nicht sein, dass Bewusstseinsphänomene wie blinder Glaube an Rasse, Volk und Vaterland nur sehr lose mit sozioökonomischen Bedingungen verbunden sind? Die rassistischen Erregten würden selbst im Schlaraffenland weiterbrüllen. (…) Könnte es sein, dass man ihnen mit linken Ideologie-Versatzstücken nicht beikommt? Muss man womöglich ganz neu nachdenken über das Verhältnis von Sein und Bewusstsein? Über moderne Gesellschaften, deren Mitglieder sich umso verunsicherter fühlen, je größer die faktische – soziale, ökonomische, politische – Sicherheit ist, in der sie leben?

Trotz all des Getöses um ihn herum wird der bronzene Marx zusehends ruhiger: Offenbar ist die Schädelstätte der Ort, wo man Ideologien, rechten so gut wie linken, in den Bauch sehen kann. Und so lernt man, zu ihnen Abstand zu halten. Moderne Gesellschaften bieten, bei allem Wehgeschrei, maximale faktische Sicherheit bei minimaler ideologischer Sicherheit. Und vielleicht, denkt sich Marx, ist das sogar gut so.“

 

Westfälische Nachrichten (Bielefeld): „Parlaments-Vizepräsident Kubicki gibt Merkel die Schuld, Justizminister Maas beklagt die Bequemlichkeit der Anständigen. Im Grunde Kapitulationserklärungen. Denn der Staat ist gefordert: Auch in Chemnitz steht wieder ein Flüchtling, der längst hätte abgeschoben werden müssen, unter Mordverdacht.
Es braucht hier keine Beschwichtigungen und relativierenden Erklärungsversuche – das Vertrauen der Bürger in die Durchsetzung des Rechts durch den Staat erodiert. Und jeder neue Fall ist Wasser auf die Mühlen des Rechtsradikalismus. Innerhalb und außerhalb der Parlamente.
Der in Chemnitz zu besichtigende Autoritätsverlust ist ein Alarmsignal – für staatstragende politische Kräfte und das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat.“