Analyse – RUSSLANDS SYRIEN-STRATEGIE WIEDERHOLT SICH IN DER UKRAINE: ABBEISSEN – ZERMAHLEN -WEITERZIEHEN
Zahlreiche seriöse Militärexperten geben der russischen Armee keine großen Chance mehr, die Ukraine zu besiegen. Westliche Geheimdienste und Politiker stellen sogar einen Sieg der ukrainischen Streitkräfte über Moskaus Truppen in Aussicht.[1]
Die Gründe dafür sind bekannt: Die russische Armee zeigt sich strategisch und waffentechnisch weitgehend veraltet, die Soldaten sind unmotiviert, die Versorgung funktioniert nur bedingt. Es fehlt ein effizientes Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Teilstreitkräften, die Luftüberlegenheit der russischen Luftwaffe ist nur teilweise gegeben, und die im Guerillastil agierenden Ukrainern fügen mit schultergestützten Panzer- und Flugabwehrraketen schwere Verluste zu. Nach Erkenntnissen des Pentagons und des britischen Geheimdienstes steht die russische Armee latent kurz vor der Kampfunfähigkeit.[2]
Diese Beobachtungen treffen bestimmt zu und lassen dennoch eines außer Acht. Mit der Dombass-Offensive hat sich der Krieg in der Ukraine verändert und Russland auch seine Anfangsstrategie deutlich korrigiert. Wie schon im Krieg in Syrien, zerteilt Moskau nun auch in der Ukraine die Kräfte des Gegners in mundgerechte Häppchen. Damals bedeutete dies, dass Russland dschihadistische Enklaven wie Dumayr oder Ost-Ghouta in „Deeskalationszonen“ umwandelte, aus denen heraus keine Angriffe auf die syrische Armee erfolgen durften. Die syrische Armee und ihre russischen Unterstützer mussten fortan nicht mehr zahlreiche Ziele gleichzeitig bekämpfen, sondern hoben nacheinander die Deeskalationszonen auf und rangen sie einzeln nieder. Im laufenden Krieg gegen die Ukraine konzentriert sich Russland – nachdem es sich aus dem Nordosten der Ukraine zurückgezogen hat – nun auf den Dombass und begnügt sich vorerst weitgehend damit, die im Süden eroberten Gebiete zu halten.
Auch wendet die russische Armee nun jene Strategie an, in der Moskau traditionell seine besondere Stärke sieht und die in Syrien auch mit dem Einsatz der berüchtigten Faßbomben umgesetzt wurde: Der Direktor des Museums der Luftverteidigungskräfte Juri Knutow bringt diese Strategie auf eine einfache Formel: Abbeißen – zermahlen – weiterziehen.[3]
Denn wie in Khan Shaykhun oder Mariupol finden die Kämpfe im Dombass in einem relativ dicht besiedelten oder urbanen Gebiet statt. Seit mindestens sechs Jahren konnte die ukrainische Armee Stellungen grabenund die Orte zu Festungen ausbauen. Deshalb geht es bei der Dombass-Offensive auch nicht um einen raschen Erfolg. Die ukrainischen Befestigungen werden sturmreif geschossen. Kurz vor der vollständigen Einkesselung ziehen sich die ukrainischen Soldaten zur nächsten Verteidigungslinie zurück, wo sie wiederum versuchen, die russischen Truppen so lange wie möglich aufzuhalten.
Darüber hinaus versucht Moskau, zwei Zangenangriffe aufzubauen. Eine äußere Zange kommt derzeit östlich von Slowjansk und Kramatorsk kaum voran, während sich eine innere Zange bei Severodonesk und Lychansk abzeichnet. Hier ist es der russischen Armee bereits gelungen, die Außenbezirke von Severodonesk zu erreichen, und ein Brückenkopf bei Popasna stößt in Richtung Bakhmut und Lychansk vor. In diesem Gebiet vermutet der stellvertretende Innenminister der „Volksrepublik Luhansk“ (LPR) nach Angaben von Channel One bis zu 16.000 ukrainische Soldaten.[4] Die Zahl der ukrainischen Verteidiger allein in Sewerodonesk bezifferte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Zaluzhny, auf etwa 2.000 Mann.[5]
Somit ist zwar insgesamt der Einschätzung der westlichen Experten zu folgen, dass Russland unter den jetzigen Umständen die Kraft fehlen wird, die Ukraine völlig einzunehmen und und es für Russland schwierig sein wird, selbst bisher eroberte Gebiete auf Dauern zu halten. Dennoch sind die langsamen Fortschritte der russischen Armee aktuell nicht als ein Zeichen der reinen Schwäche zu deuten, sondern als Teil der Strategie, die Moskau seit Beginn der Dombass-Offensive umsetzt und in der Zeit nicht der bestimmende Faktor ist. Dies wird sich im Dombass erst ändern, wenn es eine neue Phase des Krieges erfordert.
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[1] u.a. Wortmeldungen von Secretary of Defense Lloyd J. Austin III https://www.ukrinform.de/rubric-ato/3467244-usverteidigungsminister-austin-glaubt-an-sieg-der-ukraine-im-krieg-gegen-russland.html; https://twitter.com/SecDef/status/1518940811102150662; https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/economist-timothy-ash-time-on-ukraines-side-in-war-russian-economy-squeezed.html
[2] u.a. https://www.kyivpost.com/eastern-europe/military-intelligence-heavily-hit-russia-will-struggle-to-make-good-war-losses.html; https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/experts-western-arms-in-uaf-hands-will-defeat-the-rf-army-but-it-will-take-months.html; https://en.interfax.com.ua/news/general/827395.html
[4] https://english.pravda.ru/news/hotspots/151865-ukrainian_soldiers_entrapped/
Bildquelle: Image by Kabomani-Tapir from Pixabay
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