Analyse: AFGHANISCHER AUSBLICK

»Prognosen sind schwierig. Besonders wenn sie die Zukunft betreffen«, soll bereits der US-amerikanische Autor Mark Twain festgestellt haben. Dies trifft in besonderem Maße auf Afghanistan zu. Dennoch lässt sich schon heute ein künftiger Weg des kriegsgebeutelten Staates skizzieren.

Mit der raschen Einnahme nahezu des gesamten afghanischen Staatsgebietes einschließlich der Hauptstadt Kabul besteht zunächst wenig Zweifel, dass die Taliban Afghanistan regieren werden. Am 102. Jahrestag der Unabhängigkeit vom Britischen Kolonialreich (19. August 2021) twitterte der Sprecher der Taliban, Zabiullah Mujahid, die baldige Ausrufung eines »Islamischen Emirats Afghanistan«.

Als islamisches Emirat wird Afghanistan natürlich kein demokratischer Staat westlicher Prägung sein, sondern auf der Scharia in der konservativen Auslegung der Taliban beruhen.

Die Taliban werden als keine einheitliche Kraft beschrieben. ArabNews sieht neben einem „zivilisierten“ Flügel in Doha auch einflussreiche Geistliche und Warlords. Daneben existieren das als terroristisch geltende und in Kabul nicht unbedeutende Haqqani-Netzwerk sowie Schuren, darunter die einflussreiche Quetta Schura.

Konsolidierung der Macht in Afghanistan

Dass sich zunächst Kräfte wie Mullah Abdul Ghani Baradar, ein Mitbegründer der Taliban, mit der Idee einer „inklusiven“ Regierung aus Taliban und Nicht-Taliban (als Feigenblättchen?) durchsetzen dürften, liegt an den Zwängen der Realpolitik: Die Taliban müssen zunächst ihre Macht in Afghanistan festigen und einen funktionierenden Staat aufbauen.

Hier setzt die historische Bürde der Taliban ein. Vielen Afghanen ist deren Herrschaft von 1996 bis 2001 in einem international isolierten, bettelarmen und religiös extrem strikten Land in mäßiger Erinnerung. Daher zeigten sich die Taliban bereits in ihrer ersten Pressekonferenz und in Stellungnahmen geläutert und versprachen, dass ihre künftige Regierung „positiv anders“ sein werde, wie ihr Sprecher Zabihullah Mujahid in der pakistanischen The Express Tribune zitiert wurde.

Dazu müssen die Taliban auf traditionelle Herrschaftsstrukturen und die 14 ethnischen Sprachgruppen Rücksicht nehmen, Beamte, Soldaten und Piloten der früheren Regierung amnestieren und versuchen, die Fachkräfte im Land zu halten, um die staatlichen Institutionen weiterhin zu betreiben.

Weitere Problemfelder liegen im großen Unterschied zwischen erzkonservativem Land und den Städten, wo die westliche Politik und Geld in den letzten beiden Jahrzehnten auch den Lebensstil beeinflusst haben und es zu Widerstand gegen die Taliban kommen könnte.

Herat: Bildquelle: Image by David Mark from Pixabay

Zudem droht die unmittelbare Gefahr einer Hungersnot. So sprach Mary Ellen Mc. Groarty, Landesdirektorin der UN-Nahrungsmittelagentur in Afghanistan am 18. August in einem Videobriefing davon, dass 40 Prozent der Ernte zerstört seien und Afghanistan nach der zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren, den Auswirkungen der Covid-19 Pandemie und dem nahenden Winter auf eine humanitäre Katastrophe zusteuere, wie übereinstimmend India Today, die türkische Anadolu Agency und zahlreiche weitere Medien berichteten.

Auch müssen die Taliban ihren Machtanspruch gegenüber rivalisierenden Gruppierungen durchsetzen. Das betrifft in erster Linie den lokalen Zweig des Islamischen Staates (IS), den sogenannten IS-Khorosan (IS-K). Erst unlängst machte er durch den blutigen Anschlag auf den Flughafen in Kabul auf sich aufmerksam. Haroun Rahimi, Assistant Professor der Rechtswissenschaften an der American University of Afghanistan, sieht in einem Interview alleine die Gesprächsbereitsschaft der Taliban mit den USA als Grund an, für den IS-K als Verräter zu gelten. Zudem steht der IS für die Idee eines länderübergreifenden, universellen Kalifats, während die Taliban trotz ihrer Ausrichtung auf die Deobandi-Schule und dem Einfluss der pakistanischen Madrassas-Religionsseminare als national-afghanische Islamisten beschrieben werden, die einen transnationalen Dschihad (zumindest vorerst) ablehnen. Gegen die These von einer tiefen Feindschaft zwischen Taliban und dem IS-K spricht hingegen, dass der Pentagon-Sprecher John Kirby auf Frage einer Fox News Reporterin zugab, dass im Zuge der Machtübernahme der Taliban Mitte August Tausende Anhänger des IS-Khorosan aus zwei afghanischen Gefängnissen freigelassen wurden.

Eine weitere Front entsteht gerade im Panjshir-Tal, wo seit drei Tagen die Waffen sprechen, nachdem Verhandlungen mit der »Panjsir Resistance Front« gescheitert sind, auch wenn sich die Taliban weiterhin gesprächsbereit geben.

Auf internationale Geldgeber angewiesen

Die verschiedentlichen Versprechen der Taliban, eine moderate Politik verfolgen zu wollen, beruhen zum einen in der eklatanten wirtschaftlichen Schwäche Afghanistans. Zwar haben David Mansfield und Graeme Smith im ODI Thinktank einen 44-seitigen Bericht über die südwestlichen Provinz Nimroz veröffentlicht, in der sie aufzeigen, dass die Taliban ihre Einkünfte vor allem durch die 10-20 prozentige Besteuerung landwirtschaftlicher Einkünfte, größerer Bauvorhaben, Treibstoffhandel sowie durch das Einheben einer Straßenmaut von LKWs generieren, im bescheidenen Maße auch durch den Drogenanbau und Menschenschmuggel.

Dennoch zeigt ein Blick auf die Webseite der Weltbank , wie sehr eine afghanische Regierung auf ausländische Hilfsmittel internationaler Geldgeber angewiesen ist, die zuletzt 75 Prozent der Staatsausgaben trugen. Demnach existieren in Afghanistan kaum Industrien, 44 Prozent der Arbeitskräfte sind in der Landwirtschaft tätig und ernähren hierdurch 60 Prozent der Haushalte. Der Privatsektor wird von der Weltbank sinngemäß als marginal ausgeprägt beschrieben. Demgegenüber sind Korruption und Schattenwirtschaft weit verbreitet, so die Weltbank. Weitere spannende Parameter liefen die Arbeitslosenquote, die Statista für 2020 mit lediglich 11,2 Prozent angibt und die Analphabetenrate, die 2020 laut dem UNESCO Institute for Lifelong Learning bei 57 Prozent der über 15-jährigen lag. Diese Rate unterscheidet sich aber einerseits fundamental zwischen Männern (45 Prozent) und Frauen (70,2 Prozent) sowie Jugendlichen der Altersgruppe zwischen 15-24- jährigen, von denen 35 Prozent Analphabeten sind.

Die große Abhängigkeit von ausländischen Hilfsgeldern, deren Ausbleiben die Inflation antreibt, setzt die Taliban der Macht des Geldes aus, indem die internationalen Geldgeber die Mittel für Afghanistan einfrieren und deren Fortsetzung an bestimmte Forderungen knüpfen. So blockiert der IWF den Zugang zu den Ressourcen und stellt die Weltbank seine finanzielle Unterstützung für Hilfs- und Entwicklungsprojekte vorerst ein. Tolonews zitiert die Weltbank-Sprecherin Marcela Sanchez-Bender in einer Erklärung gegenüber dem US-Sender CNN wonach die Weltbank »[…] zutiefst besorgt über die Situation in Afghanistan und die Auswirkungen auf die Entwicklungsaussichten des Landes, insbesondere für Frauen« ist. Zudem besitzen die Taliban keinen Zugriff auf die Devisenreserven der afghanischen Zentralbank im Wert von etwa 9,4 Milliarden Dollar, die größtenteils bei der Federal Reserve in New York lagern und müssen auch auf Entwicklungshilfegelder verzichten, nicht zuletzt auf solche aus Deutschland. Es bahnt sich aber ein Deal mit westlichen Staaten wie Deutschland an: Entwicklungshilfe für Menschen- und Frauenrechte, eine Regierung, die nicht nur aus Taliban besteht, und ein Afghanistan, das kein „neuer Hort für Terrorismus“ ist, wie es der deutsche Außenminister Maas kürzlich formulierte.

Diese Daumenschraube führt die Taliban in eine Zwickmühle. Richten sie ihren Regierungsstil zu moderat aus, werden enttäuschte Anhänger radikalere Strömungen wie den IS-Khorosan speisen; bleiben sie zu starr, riskieren sie die Fortdauer von Sanktionen und das Ausbleiben notwendiger Hilfsgelder.

Nachbarstaaten wollen Stabilität und eine gemäßigte Politik

Die Mäßigung der Taliban ist vermutlich aber in erster Linie als Zeichen an ihre Nachbarn in der Region und Unterstützer zu werten. Deren Hauptwünsche an die neuen Herren Afghanistans umschließen ein stabiles Afghanistan mit einer breiten Machtverteilung, einer gemäßigten Religionspolitik und einer friedlichen Außenpolitik, um westliche Sanktionen oder gar ein erneutes militärisches Eingreifen ausländischer Mächte zu vermeiden und ein gedeihliches Umfeld für Handel und Investitionen zu schaffen. Hier ist die Volksrepublik China als erster Adressat zu sehen, den die Taliban als wichtigen Investor ansehen.

China, das sich offiziell nicht in die Innenpolitik eines Handelspartners einmischt, macht seine Haltung zu den Taliban davon abhängig, dass die Taliban die Turkestan Islamic Party (TIP) oder ETIM daran hindert, von Afghanistan aus Anschläge in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang (XUAR) zu verüben, die sich mit Afghanistan eine 90 Kilometer lange gemeinsame Grenze am Wakhan Korridor teilt. Mit Pakistan sorgst sich China ebenso vor den Tehrik-e-Taliban (TTP), die in Pakistan für ein unabhängiges Paschtunistan kämpfen. Erst im Juli kostete der Anschlag auf einen Bus mit chinesischen Arbeitern, die sich auf dem Weg zum Dasu-Damm befanden, neun Chinesen und vier Pakistaner das Leben.Indien befürchtet wiederum Anschläge von Terrorgruppen wie die Jaish-e-Muhammad und die Lashkar-e-Tayyaba in Jammu sowie im Kaschmir und letztlich misst auch Russland die Taliban daran, dschihadistische Anschläge in Zentralasien zu verhindern, worauf Understanding War aufmerksam macht.

Pakistan und der Iran wiederum teilen die Sorge um Minderheiten: Der Iran interveniert wegen der schiitischen Minderheit der Hazara, die etwa 20 Prozent der afghanischen Bevölkerung ausmachen. Pakistans Achillesverse bildet die Grenzziehung Afghanistans gegenüber dem damaligen Britisch-Indien im Jahre 1919, die sich an der „Durand-Linie“ von 1893 orientierte. Sie zerteilte das paschtunische Siedlungsgebiet, weswegen heutzutage die Paschtunen in Afghanistan über 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, der zahlenmäßig größere Teil aber im mehrheitlich punschabischen Pakistan als Minderheit leben.

Die derzeit international wohl brisantestes Frage knüpft sich an einer möglichen Flüchtlingswelle. Auf dem Landweg erscheint hier die Route von Afghanistan über den Iran und die Türkei in die EU auf den ersten Blick besonders plausibel. Doch gegenüber er Flüchtlingsbewegung des Jahres 2015 hat sich die aktuelle Ausgangssituation völlig verändert. Vertreter der Türkei lassen keinen Zweifel entstehen, dass die Türkei „niemandes Flüchtlings-Lagerhallesein wolle (Präsidentensprechers Ibrahim Kalın), die Türkei nicht die Pflicht, die Verantwortung oder die Verpflichtung hat, Europas Flüchtlingslager zu sein“ (Präsident Recep Tayyip Erdoğan) und die EU laut Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nicht glauben solle, dass sie der Türkei Geld geben könnten, „um Afghanen im Land zu halten„.

Die schroffe Haltung erklärt sich einerseits, weil die Türkei bereits eine große Last an syrischen Flüchtlingen trägt und die Stimmung ihnen gegenüber im Land anscheinend zu Kippen droht andererseits und insbesondere die Absicherung der griechischen Grenzsicherung zur Türkei ein Niveau erreicht hat, die türkische Erpressungsversuche mit Migranten seit dem Frühsommer 2020 verhindert.

In das Bild fügt der Bericht der türkischen Anadolu Agency über die Verstärkung der Grenztruppen entlang der 295 Kilometer langen Grenze zum Iran und deren Ausrüstung mit Nachtsichtgeräten, Wärmebildkameras und Drohnen, sowie den Ausbau einer modulanen Grenzmauer mit 58 Beobachtungstürmen und 45 Kommunikationstürmen, die etwa zum Jahresende fertiggestellt sein soll.

Laut Understanding War ist es auch für Russland „[…] vorrangig, potenziell destabilisierende Flüchtlingsströme aus Afghanistan zu verhindern„, und der russische Präsident Wladimir Putin sagte laut TASS, dass „wir nicht wollen, dass Militante unter dem Deckmantel von Flüchtlingen hier [in Russland] wieder auftauchen.“

Somit erscheint es zunächst als wahrscheinlich, dass sich die Taliban aus Gründen der inneren Konsolidierung, des monetären Drucks des Westens und auf Wunsch seiner Nachbarstaaten zunächst einer „moderateren“ Regierungslinie bedienen wird, um seinen Machtanspruch so in der Anfangsphase zu festigen. Diese „moderate“ Haltung wird aber immer noch streng an der Scharia ausgerichtet sein. Daran besteht kein Zweifel.

Mittelfristig wird sich Afghanistan aber politisch wie wirtschaftlich vom Westen abwenden und bei Staaten wie der VR China, Pakistan, Russland, Iran, Katar und der Türkei Halt finden, die eine globale Dominanz des westlichen Wertesystems abschütteln wollen.

Titelbild: Image by Makalu from Pixabay

Bild im Text: Herat, Image by David Mark from Pixabay